Deportiert -  Andrea Löw

Deportiert (eBook)

»Immer mit einem Fuß im Grab« - Erfahrungen deutscher Juden | Eine kollektive Erzählung auf Basis Hunderter Zeugnisse

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491815-0 (ISBN)
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Die erste große, vielstimmige Erzählung über die Erfahrungen der Jüdinnen und Juden, die während des Nationalsozialismus aus dem Deutschen Reich ins besetzte Osteuropa deportiert wurden. Auf Basis Hunderter Briefe, Postkarten, Tagebücher,  Video-Aufzeichnungen und vieler weiterer Quellen verwebt Andrea Löw die individuellen Geschichten zu einem erschütternden Zeugnis. Ein Zeugnis, das umso wichtiger ist, als die letzten überlebenden Opfer der Shoah bald nicht mehr selbst erzählen können. Ab Herbst 1941 wurden die im Deutschen Reich verbliebenen Jüdinnen und Juden systematisch »nach Osten« deportiert. Der Deportationsbefehl war unerbittlich - ein Koffer war erlaubt, es blieb kaum Zeit, um alles zu regeln und Abschied zu nehmen. Dann wurden die Menschen aus ihrem bisherigen Leben gerissen. Wer konnte, schrieb Briefe an Verwandte, in denen sie ihnen und sich selbst Mut machen, aber auch ihre Sorgen und Ängste thematisieren. Auch während des Transports, in den Ghettos und den Lagern schrieben die Menschen Briefe und Postkarten, es sind Tagebücher und Chroniken überliefert, die unmittelbar in der Situation entstanden sind - das macht diese Zeugnisse so unmittelbar. Aus den Stimmen der einzelnen Menschen komponiert Andrea Löw eine Erzählung, deren Lektüre die ganze Ungeheuerlichkeit des Verbrechens emotional bewusst macht. Indem sie selbst zu Wort kommen, werden die Menschen sichtbar - als Mütter, Kinder, Großeltern, als Liebende, als Junge und Alte. Sie schildern ihre Ängste und Hoffnungen, die Stationen bis zur Abreise, den Transport, das Überleben im Ghetto. Die meisten erwartete am Ziel der sichere Tod, die Überlebenden berichten von Gefangenschaft, Flucht und Rettung. Sie alle waren Menschen, die Unfassbares erleben mussten - dieses Buch bringt sie uns ganz nah, mit all ihrem Mut und ihrem Leid. Wer wissen möchte, was sich hinter den Namen und Orten auf den vielen Stolpersteinen in deutschen Städten verbirgt, findet die Geschichten der Menschen in diesem Buch. Aus Berlin und Hamburg, Leipzig und München, Dresden, Stuttgart, Köln, Hannover, Wien, Breslau oder Stettin und vielen anderen Orten.

Dr. Andrea Löw, geboren 1973, war von 2004 bis 2007 an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Universität Gießen tätig. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte, seit 2013 als stellv. Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien. 2006 erschien ihr Buch ?Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten?, 2013 publizierte sie zusammen mit Markus Roth ?Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung?.

Dr. Andrea Löw, geboren 1973, war von 2004 bis 2007 an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Universität Gießen tätig. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte, seit 2013 als stellv. Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien. 2006 erschien ihr Buch ›Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten‹, 2013 publizierte sie zusammen mit Markus Roth ›Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung‹.

Letzte Briefe


In den allermeisten Fällen sind diese Briefe oder Postkarten, in denen Jüdinnen und Juden angesichts ihrer bevorstehenden Deportation traurig Abschied von ihren Liebsten nehmen, letzte Lebenszeichen. Manchmal ist es der letzte einer ganzen Reihe von Briefen, die Eltern an ihre geliebten Kinder geschrieben hatten. Sie erzählen darin von der gerade verlebten schweren Zeit, rekapitulieren manchmal die Ausgrenzung, wie sich ihr Leben immer mehr verengt hat. Hin und wieder schreiben sie darüber, dass die letzte Hoffnung auf eine Emigration erloschen und damit auch ein Wiedersehen nun viel ungewisser sei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten viele sich an die Erwartung geklammert, ihren Liebsten nachreisen zu können. Nun verabschieden sie sich von ihren Kindern, geben ihnen häufig noch Ratschläge für ihr Leben und bitten sie, sich immer anständig zu verhalten, gerade auch gegenüber denjenigen, die sie aufgenommen haben. Sie berichten über die Deportationen ihrer Leidensgenossen, davon, dass auch sie selbst nun bald ins Ungewisse reisen werden, und beschreiben ihre vagen Erwartungen. Es gibt zahlreiche derartiger Briefe im Besitz der Familien, in Archiven oder auch veröffentlicht. Es sind traurige, erschütternde Dokumente, die einen Eindruck davon vermitteln, was dieser Abschied bedeutete. Nur einige Beispiele seien hier genannt.

Marianne Ziegler schreibt am 9. November 1941, an dem Tag, an dem sie und ihre Schwester Thekla Ehrmann den Deportationsbescheid bekommen haben, an ihren Bruder Richard Baruch in New York. Die verwitweten Schwestern hatten bereits Visa für die USA gehabt, wollten jedoch ihrem Bruder nicht zur Last fallen und blieben. Als sie ihr Geschäft nach den Novemberpogromen verloren hatten, bemühte sich Richard erneut um ihre Emigration. Doch es war zu spät. Marianne Ziegler beklagt in ihrem Brief, dass sich ihre Hoffnungen, ihm in die USA nachzufolgen, zerschlagen hätten, »leider scheint im Augenblick wieder mal alles eingefroren zu sein, immer schlägt einem die Tür vor der Nase zu«. Sie bittet ihn, sich keine Sorgen zu machen, falls er nicht mehr regelmäßig von ihr hören werde: »Ich hoffe doch, dass wir uns noch mal sehen werden, es dauert eben länger als man glaubt, und der Weg führt nicht immer so glatt ans Ziel, es gibt eben große Umwege. (…) Also, meine Lieben, seid nicht ängstlich, wenn Ihr von uns keine Post bekommt, wir werden schon durchhalten.«[1] Doch die Hoffnung auf ein Wiedersehen sollte sich nicht erfüllen. Dies war das letzte Lebenszeichen, das Richard Baruch von seinen Schwestern bekam. Die beiden wurden nach Minsk deportiert und nach dem Krieg für tot erklärt.[2]

Das Bemühen, trotz der dramatischen Situation und der eigenen Unsicherheit die Verwandten zu beruhigen, ihnen die Angst angesichts vermutlich ausbleibender Nachrichten zu nehmen, findet sich häufig in diesen Briefen. Die Sorge um das Gegenüber, das ja in vielen Fällen ein minderjähriges Kind war, wog schwerer als die eigene Angst. Und die mutmachenden Worte an die Empfänger der Briefe dienten vermutlich auch der eigenen Beruhigung.

In Mindelheim verabschieden sich im Frühjahr 1942 Fanni und Jakob Liebschütz von ihrem in die Schweiz emigrierten Sohn Werner. Sie teilen ihm mit, dass sie mit vielen anderen abreisten und nicht wüssten, ob er bald wieder Nachrichten bekommen werde. Der Vater schreibt: »Sei deswegen nicht in Sorge um uns, es geht uns schon gut, und wir sind auch weiterhin guten Mutes, alles wird recht werden. Es kommt die Zeit wieder, in der wir uns wohlbehalten wieder sehen, um ein neues Leben zu beginnen. Tue stets das, was Dir die lieben Verwandten sagen, sie meinen es alles gut mit Dir.« Und die Mutter ergänzt:

»Nun nehmen auch wir Abschied von hier, aber anders, d.h. in anderer Richtung als wir dachten. Papa half dieser Tage viel Sachen für uns verladen & werden wir keine Not leiden u.s.w. Dann wird es an die Arbeit gehen + zum Segen aller wollen wir wirken. Lebe Du recht wohl + lebe Dich in Männedorf gut ein. Der Nebel wird nicht so schlimm sein, das Hilfswerk schrieb, dass es liebe Leute seien, wo Du hinkommst. Wir haben gute Kameraden & sind nicht traurig, da wir Dich in guten Händen wissen.«[3]

Fanni und Jakob Liebschütz kamen nach Piaski, eines der sogenannten Transit- oder Durchgangsghettos im Distrikt Lublin. Von dort konnten sie noch einige Male schreiben, dann blieben ihre Verwandten und ihr Sohn im Ungewissen über ihr Schicksal. Die beiden haben nicht überlebt.[4]

Zur selben Zeit, am 22. März 1942, schreiben Gretel und Hugo Klein aus Bad Neustadt an der Saale vor ihrer Deportation einen bewegenden Abschiedsbrief an ihre fünf Kinder, die im August 1939 mit einem Kindertransport in Sicherheit gebracht worden waren. Sie gaben den Brief in die Obhut von Freunden mit der Bitte, ihn nach dem Krieg den Kindern zu übergeben.[5] Am 22. April wurde das Ehepaar zur Sammelstelle nach Würzburg gebracht und von dort am 25. April 1942 nach Izbica verschleppt. In diesem letzten Brief der Mutter an »meine innigstgeliebten Kinder«, der auch von der großen Trauer darüber handelt, nicht bei ihnen sein zu können, heißt es unter anderem: »Wir rechnen nun auch jeden Tag mit unserem Abruf, und wenn es kommt, müssen wir fort. Es ist traurig, so von seinem Heim fortgerissen zu werden, alles stehen und liegen zu lassen und ins Ungewisse zu kommen. Aber es ist alles vom lb. Gott, und es ist uns so beschieden. Ich danke dem lb. Gott jeden Tag, dass Ihr, meine geliebten Kinder, gut versorgt seid und nicht mit uns ins Elend müsst.« Weiter heißt es:

»Nun habe ich Euch meine lieben Kinder unser Leben bis daher geschildert; wie es weiter mit uns wird, wollen wir dem lb. Gott überlassen. Sollten wir uns im Leben nicht mehr wieder sehen, so verabschiede ich mich von Euch meine geliebten Kinder. Werdet brave ordentliche Menschen, wie es Eure Eltern auch waren, damit wir ruhig im Grabe schlafen können. Betet für uns und gedenket unser, erzählet es Euren Kindern wieder, wie wir zu Tode gepeinigt wurden. (…) [L]ebt wohl, bleibt alle hübsch gesund, bis wir uns im Jenseits wieder sehen.«

Der Vater beschließt seinen hinzugefügten Brief: »Ich küsse Euch vielmals, und wenn ich sterbe, dann habe ich Eure Bilder in der Hand und nehme diese mit ins Grab. Auf Wiedersehen, es geht nicht mehr, mir blutet das Herz, Euer stets besorgter, Euch nie vergessender, hoffentlich einst wieder glücklicher Papa.«[6] Niemand aus diesem Würzburger Transport hat überlebt.

Wir wissen von diesen Verfasserinnen und Verfassern zwar, dass sie umgekommen sind, können aber nicht sagen, wie lange sie noch in den Ghettos im »Osten« gelebt haben, da sich meist ihre Spur mit der Deportation verliert. Es gibt auch Fälle, in denen bekannt ist, dass die Briefeschreiber nach dem Abfassen der letzten Nachricht tatsächlich nur noch wenige Tage gelebt haben. Bertha Oppenheimer schreibt am 18. November 1941 an ihren in die USA emigrierten Sohn und dessen Familie: »Wenn es erlaubt ist, werde ich meine Adresse mitteilen. Vielleicht könnt Ihr mir etwas dorthin senden.«[7] Nahezu gleichzeitig schreiben die Schwestern Elsa Balbier und Karoline Adler in München einen Abschiedsbrief, in dem es unter anderem heißt: »Wenn es geht, lassen wir von uns hören.«[8] Bernhard Goldschmidt richtet ebenfalls aus München eine Abschiedskarte an seine Mutter in den Niederlanden, »denn wir kommen fort von hier mit vielen, vielen anderen. Wir sind offen gestanden froh darob, denn die letzte Zeit war für Magda auch mehr als anstrengend. Auch die Entspannung nach all den vielen anstrengenden Tagen des Wartens ist viel wert.« Er vermute, so schreibt er weiter, dass sie nach Polen kämen, und schließt: »Es kann länger dauern, bis Ihr von uns hört.«[9]

Bernhard Goldschmidts Mutter bekam nie wieder eine Nachricht von ihrem Sohn und seiner Frau, Elsa Balbier und Karoline Adler ließen nicht mehr von sich hören, und auch Bertha Oppenheimer teilte ihrem Sohn keine Adresse mehr mit. Der dritte Deportationszug aus Frankfurt und der erste aus München im November 1941, in dem die Schwestern und das Ehepaar saßen, sollten beide ursprünglich nach Riga fahren, das Ziel wurde dann aber sehr kurzfristig geändert und hieß nun Kaunas. Dort wurden die jeweils etwa 1000 Männer, Frauen und Kinder kurz nach der Ankunft erschossen. An diesem Beispiel wird sehr deutlich, dass die Betroffenen nicht wissen konnten, was sie nach der Zugfahrt erwarten würde, selbst wenn sie davon ausgehen konnten, dass ihnen keine glückliche Zukunft zugedacht war. Fünf Züge wurden in diesem Winter 1941 nach Kaunas umgeleitet, und alle Menschen, die darin saßen, wurden wenige Tage nach ihrer Ankunft erschossen.[10] Selbst noch in diesen Zügen in den Tod, kurz vor der Ankunft, dachten sie über ihre Zukunft nach. Dazu später mehr.

Im Laufe des Jahres 1942 wurden immer häufiger die meisten der Menschen in den Zügen, die sie ins besetzte Baltikum oder Weißrussland brachten, unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. So auch Frieda und Max Reinach. Die beiden schrieben seit Kriegsbeginn ein Brieftagebuch an ihre nach Palästina emigrierten Kinder, dessen letzten Eintrag vom 20. Oktober 1942 sie als Abschiedsbrief formulierten. Sie hatten eben erfahren, dass auch sie, obwohl Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde, nun »evakuiert« würden. In diesem Eintrag...

Erscheint lt. Verlag 27.3.2024
Zusatzinfo Mit 21 sw-Abbildungen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte Auschwitz • Bergen-Belsen • Deutsches Reich • Deutschland • Emanuel Ringelblum • Ghettos Osteuropa • Holocaust • Holocaust-Überlebende • Juden • Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse • Konzentrationslager • Litzmannstadt • Minsk (Ghetto) • Nationalsozialismus • Österreich • Polen • Riga (Ghetto) • Russland • Shoah • Theresienstadt • Ukraine • Vernichtungslager • Warschauer Ghetto • Weißrussland
ISBN-10 3-10-491815-5 / 3104918155
ISBN-13 978-3-10-491815-0 / 9783104918150
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